Das Buch der Zähren - Swatower Oden, Wiener Elegien

Von Wolfgang Kubin (Autor/in)., Friedrich Zettl (Illustrator/in). | 92 Seiten | Erschienen: 25. 07. 2023 | ISBN: 9783991140412 | 1.Auflage

Das griechische Wort Ode heißt zunächst nichts anderes als Lied, es war Gesang, ohne Endreim und nach strenger Metrik verfaßt.

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Der Lyriker, Essayist und Erzähler Wolfgang Kubin (geb. 1945 in Celle) versucht sich an neuen Formen. Die Orte seines Herzens boten ihm eine Gelegenheit dazu: Bonn, Swatow (Shantou), Wien. Die Oden und Elegien sind nicht erdacht, sondern haben mit wirklichen Menschen und Geschehnissen zu tun. Der Verfasser ist vielmals mit Preisen in China und in Deutschland bedacht worden. Seine Vorliebe für den Taoismus und den Zen-Buddhismus teilt er mit dem allgewaltigen Wiener Künstler Friedrich Zettl, der die Texte in die Sprache meditativer Leere übertrug.

Das Wort vor dem Wort

Wenn ich einmal mehr eine Form behaupte, die ich gar nicht streng einhalte, was soll dann ihr Name? Eine Orientierung. Alles muß einen, wenn auch flüchtigen Halt haben, selbst wenn dieser brüchig wird. Ich habe mich in der Vergangenheit bereits an Balladen, Hymnen, Sonetten und weiter an Elegien versucht. Nun nehmen die Oden vorlieb und danach nochmals Elegien? Ja, so scheint es.
Das griechische Wort Ode heißt zunächst nichts anderes als Lied, es war Gesang, ohne Endreim und nach strenger Metrik verfaßt. Ich liebe den Stabreim. Insofern waren und sind eigentlich alle meine Gedichte gereimt, also selbst die, welche mit freien Versen daherschweben. Da bin ich weiter ein alter Germane.
Typisch für die griechische und lateinische Ode ist das Lob bzw. die Besingung von etwas Konkretem. In meinem Fall zum Beispiel der Preis der Bülbüls (Sperlinge) von Swatow. Swatow, so lautet die alte Schreibung für Shantou, der Hafenstadt in Südwestchina, wo ich seit Jahren zuhause bin. Oder zum Beispiel die Rühmung der Bauhinien, der Orchideenbäume (Bauhinia), launisch verbreitet bis nach Hongkong. Diese werfen üppig ihre farbigen Blätter von sich, so daß man auf den Wegen der paradiesischen Universität Shantou fast über sie steigen muß, um bei Regen nicht auszugleiten.
In der chinesischen Literatur mag es für die Besingung der schönen Dinge dieser Welt bereits Vorläufer gegeben haben, denn an den aristokratischen Höfen des Mittelalters (220-960) besangen die Dichter anläßlich von Banketten das Wohl der einzelnen Naturerscheinung.
Hierzu scheint die Elegie als Klagelied in einem Gegensatz zu stehen. Ideal und Wirklichkeit fallen bei ihr bekanntlich auseinander. Wir können das ähnlich bei den Liedern des Südens (Chuci) in China sehen. Um 300 v. Chr. beseufzen die Dichter eine Loslösung des Religiösen vom Gesellschaftlichen. Der Philosoph Mo Zi (etwa 479-381) hatte zuvor gemeint, alles Unglück entstehe aus der Vernachlässigung der Götter. Überhaupt soll die Elegie aus Asien nach Griechenland gekommen sein. Auffällig ist jedenfalls die Verwandtschaft der Thematik: Der Wein und der Tod, der Krieg und das Leid, das schwere Grab und des Lebens leichte Kürze. Auch hier spricht man von Friedhofselegien. Doch die sehnlichst erwartete Göttin, ob in Gestalt einer Fee oder in der Form einer Menschin hebt den poetischen Ton.
Die Oden haben hauptsächlich die Vogelgärten der Universität Shantou zum Gegenstand, die Elegien verweilen nicht immer bei Wien, der Hauptstadt der Melancholie. Sie folgen der Traurigkeit der Ströme in den Norden und machen sich am Geschick junger Mädchenblüte fest. Ob Drachenfels oder Drachenburg, das Siebengebirge mischte sich begierig ein.
So oder so sind die Texte nicht erdacht, sondern zwischen September 2021 und Pfingsten 2022 aus der leidmütigen Geschichte sowie aus der lebhaften Gegenwart entstanden. Damit erklärt sich manch leichte Ironie. Zum ersten Mal folgen die Gesänge chronologisch aufeinander, sind, so traurig wie übermütig, aus jeweils einem Guß.
Corona war ihr Hintergrund, ob in Shantou Ende des letzten Jahres oder in Bonn Anfang der Zeitenwende erarbeitet. Jede Strophe verlangte ihre tiefe Nacht vor dem zeitigen Morgen.

Dem Verleger Walter Fehlinger ist zu danken, daß er einen Zusammenhang zwischen dem "gewaltigen" Maler Friedrich Zettl in Wien und dem "gewaltigen" Poeten aus Bonn entdeckt hat. Ob der eine oder der andere Künstler, beide stehen unter dem Einfluß des Taoismus und des Zen! So erklärt sich hier die Freundschaft einer neuen heiligen Dreieinigkeit.

Wolfgang Kubin, Pfingsten 2022 in Holzlar am Fuße des Ennert

Inhaltsverzeichnis

Swatower Oden

Ode auf eine alte Brücke
 Der Trost und die Frau
 Chrysantheme und Schwert
 An eine früh Verstorbene
 Auf ein Totenbild
 Mit Xiao Xiao in den Bergen von Swatow
 Zurück zur Brücke
 Bauhinia
 Ode auf eine Glocke
 Tauben in Swatow
 Miradouro
 Ode auf der Muße Tee
 Das gewellte Buch
 Die Frau an der Seite, die Frau ohne Uhr
 Eine kleine Variation zur Uhr und zur Zeit
 Das neue Schenkenbuch
 Hier ist noch eine
 Die Unaussprechliche
 Weißer Lotos und schwarzer Schwan
 Seltsame Fragen
 Zwischen alter und neuer Akademie
 Mobile Dichter
 Bitterer Tee
 In einem kranken Haus
 Bauhinia und Seidenreiher
 Bauhinia. Eine kleine Variation
 Bauhinia. Eine Variation der Variation
 In einem buddhistischen Paradies

Wiener Elegien

Schloß der Träume
Die Dame mit dem Fächer
Julia in der Hofburg
Reisebesteck. Eine Variation
Schwarzes Band und bloßer Arm
Zurück im Cafe` Museum
Wiener Melange
Eine Frau wie diese
Die Frau und das Zimmer
Neulich in Schönbrunn
Auch dies sei ein Bild von ihr
Der Ablaut und sein Reim
Bad, bad Whiskey
Auch sie
Il distratto
Sie nicht
Der neue Weinberg
Die Gäste sind da
Drachenschloß und Drachenfels
Julias neue Pilgerfahrt
Die Legende von dem Model J.
Göttliche Winde
Spazierengehen in Poppelsdorf. Eine prosaische Variation

Beispiele

Ode auf eine alte Brücke


So finde ich dich nach Jahren wieder, unerwartet
als Fleißbild hinter einer Schaufensterscheibe.
Wir wollen keine Sklaven sein, so war dein erstes Wort.
Nicht anders als Ernst Moritz Arndt am Alten Zoll
und weniger fremd der ferne Schüler Lu Xun

an einem ferneren Gestade. Euch schützte allein der Wille,
kein Wille zur Macht, zur Habe, der Wille zum guten Leben nur.
Ein Petroleumbrenner erlosch an deiner Seite, ein Dreizack ruht.
Machete, Messer und Schwert waren deinesgleichen feile Schneiden
wider Hohlgeschoss, Karabiner und Bajonette an enger Bogenbrücke.

Schützte Mazu etwa die tausend Toten? Fünf Tage, fünf Nächte
zuckten die Sicheln, bis der Gegner den südlichen Steg verließ.
Mit Bananen, Melonen zog er erlegen von dannen,
vergnügt im Anblick von argem Hunger und ärgerem Blutgeschehen,
junge Männer, allemal, gewandet in des Kaisers leibliche Wäsche.

Daheim, ob Mutter, Schwester oder Frau, es scherte sie nicht,
zu nehmen, was des Weibes war, ihre Scham, ihr Brusttuch.
Ein Ding unter Dingen, ob jung oder alt. Sie nannten es
einen gerechten Krieg. Und doch fielen auch sie namenlos,
nicht minder uns zur Trauer. Heute schauten wir vorbei

zufällig, gefällig an der Brücke mit beiläufigem Namen.
Hundert Jahre sind es her, da die Wasser Leichen führten
in den Hafen, in das Südchinesische Meer. Kleine Brücke
sagen wir heute, großer Trost, denken wir morgen,
da das Salz unserer Tränen wir besser beweinen.

Die Hafenstadt Shantou in der chinesischen Provinz Guangdong wurde am 25. Juni 1939 von den Japanern besetzt. Der Stadtteil Chenghai fiel ihnen ein Tag später in die Hände. An der Bogenbrücke aus der Song- bzw. Qing-Zeit kam es am 29. Juni zu einem Gemetzel: Über tausend chinesische Bürger wurden ermordet. Von 700 weiß man heute noch die Namen. Unter Zhang Zhen (1920-1992) kam es im Februar 1940 zum Gegenangriff, in dessen Folge die fremden Soldaten abzogen. Heute erinnert eine Gedenkstätte bei der kleinen Südbrücke (Nanqiao) an die Ereignisse von damals. Der Han Jiang fließt hier vorbei, benannt nach dem Großen Essayisten Han Yu (768-824), der als Erzieher in der Region Chaozhou tätig war. Die Seegöttin Mazu wird vor Ort in drei Tempeln verehrt. Hundert Jahre: Die Besetzung Chinas durch Japan erfolgte schon lange vor 1939!
Ernst Moritz Arndt (1769-1860): Ein Denkmal am Alten Zoll von Bonn trägt seine berühmte Weisung wider das Sklaventum. Lu Xun (1881-1936) machte sie sich in Japan zu eigen.


Zurück im Café Museum

Da sitzt sie wieder, tränenreich und gedenkt
der Schöpfer in der Hofburg. Der Kaffee
habe keinen Nährwert, sagt sie,
in einem Café namens Nihilismus.

Aber ist nicht dies ihr Öffentliches Wohnzimmer,
da ein jeder vorbeischaut, um ihren Nacken auszuspähen?
Einst Kunstledersitzlogen, einst Plüsch,
heute wieder Bugholzsessel und Kugelleuchten.

Da erfreue sich jedwede Tasse
eines querliegenden Löffels
über dem Wasserglas. Selbst dessen Heimat
war einmal eine wohlige Bestecktasche.

Bestimmen wir den geographischen Ort,
machen auch wir ein Besteck auf.
So kann sie nicht entkommen,
unerkannt in einen Kammergarten.

Gold und Silber seien ihr genehm.
Es zieht sie den Hügel hinauf.
Auch sie sei eine tönerne Puppe,
tönern erprobe sie Ornament und Verbrechen.

Schöpfer: Schöpfkelle. Café Museum (1899): heute nach den Vorgaben des Architekten Adolf Loos (1870-1933) wieder eingerichtet (2009). Volkstümliche Bezeichnungen: Café Nihilismus, Öffentliches Wohnzimmer. Kammergarten: Wohnsitz von Prinz Eugen (1663-1736) im Unteren Belvedere (1716) von Wien. Oberes Belvedere (1723): Repräsentationsbau. Gold und Silber: „Der Kuß“ von Gustav Klimt daselbst. Tönerne Puppe: Name eines chinesischen Kinderliedes. Ornament und Verbrechen: Kommentar von Adolf Loos zur damaligen
Architektur des „Plüsch“.

Mit Illustrationen von Friedrich Zettl

Verlag[Firma Bacopa Verlag]
ISBN9783991140412
Auflage1
Sprache(n) Deutsch
Ausführung Gebunden
Erschienen2023
Seitenzahl92
Illustrationenzahl92
Cover Hardcover
Autor/in Wolfgang Kubin (Autor/in) , Friedrich Zettl (Illustrator/in)