Himmelskäfig und andere Erzählungen

Von Wang Jing (Herausgeber/in)., An Jing (Autor/in)., Chu Wen-Huei (Autor/in)., Huang Yuxin (Autor/in)., Liu Xingli (Autor/in)., Zhu Hanchao (Autor/in)., Fang Lina (Autor/in)., Shen Xian (Autor/in)., Xie Lingjie (Autor/in)., Xu Xu (Autor/in)., Yu Zemin (Autor/in)., Lucas Göpfert (Übersetzer/in)., Kerstin Hanff (Übersetzer/in)., Zhu Lin (Autor/in)., Gunnar Klatt (Übersetzer/in)., Peter Kolb (Übersetzer/in)., Eva Lüdi Kong (Übersetzer/in)., Verena König (Übersetzer/in)., Barbara Kreissl (Übersetzer/in)., Klaralinda Ma-Kircher (Übersetzer/in)., Jian Ma (Übersetzer/in)., Ziyan Li (Übersetzer/in)., Weiping Liu (Übersetzer/in). | 292 Seiten | Erschienen: 21. 03. 2023 | ISBN: 9783991140276 | 1.Auflage

Das vorliegende Buch ist eine Sammlung von zwölf Kurzgeschichten, geschrieben von Autorinnen und Autoren mit chinesischer Wurzel aus Österreich, Deutschland, Belgien, Frankreich, Schweden, der Schweiz und Ungarn

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Die Themen sind vielfältig und reichen von kulturellen Konflikten, Flüchtlingen und deren Integration, Coronavirus-Pandemie bis hin zum Trauma der Nachkriegszeit sowie Themen über das ferne und geheimnisvolle China.
Zum ersten Mal wird eine Sammlung derartiger Werke ins Deutsche übersetzt und der deutschsprachigen Leserschaft vorgestellt: Mit zwei kulturellen Identitäten werden die Geschichten aus der Perspektive eines kulturellen Hybriden erzählt und der Kontrast zwischen den verschiedenen Kulturen wird sicherlich neue Leseerfahrungen bescheren.

Die Autorinnen und Autoren

Himmelskäfig, Yu Zemin. Übersetzung: Verena König

Frau Maaß und die Sache mit den Flüchtlingen, Zhu Hanchao (Deutschland)

Der Koffer in München, Shen Xian. Übersetzung: Liu Weiping, Gunnar Klatt

Cindy - Mit vierzig frei von Zweifeln, Xuxu. Übersetzung: Lucas Göpfert

Gesicht mit Fischmuster, An Jing. Übersetzung: Lucas Göpfert

Frühlingsblumen und Herbstmond, wann gehen sie dahin? Chung-hing

Junge Liebe, Zhu Lin. Übersetzung: Linda und Jian Ma

Die Lebenstropfen, Chu Wen-Huei. Übersetzung: Wen-Huei Chu

Molly in München, Liu Xingli

Die Ente ist an allem schuld!, Huang Yuxin. Übersetzung: Kerstin Hanff, Ziyan Li

Pollen, Fang Lina

Strohene Zöpfe, Xie Lingjie. Übersetzung: Eva Lüdi Kong

Kurzbiographien der Übersetzer*innen

Vorwort
Erfahrungen und Heimaterinnerungen
chinesischsprachiger Autoren in Europa


Das dem Leser vorliegende Buch versammelt 12 Kurzgeschichten und Erzählungen von in Europa wohnhaften chinesischsprachigen Autoren, die sich in verschiedenen Ländern aufhalten, darunter Österreich, Deutschland, Belgien, Frankreich, Schweden, der Schweiz und Ungarn. Die thematischen Inhalte sind reichhaltig und rühren einerseits an Problemfelder wie den Zusammenprall von Kulturen, Flüchtlinge sowie Integration und andererseits an die schmerzhaften Nachwirkungen des Zweiten Weltkrieges. Darüber hinaus finden sich Geschichten aus dem weit entfernten und mystischen China. Dass Kurzgeschichten und Erzählungen chinesischsprachiger Autoren in Europa in Form eines Sammelbandes gemeinsam die Bühne des deutschsprachigen Markts betreten, stellt eine bahnbrechende Neuerung dar. In Europa ansässige Chinesinnen und Chinesen verfügen über zwei kulturelle Identitäten, sie erzählen Geschichten aus einer multikulturellen Perspektive, stellen verschiedene kulturelle Räume einander gegenüber. Für den deutschsprachigen Leser ist dies mit Sicherheit äußerst interessant und ermöglicht ihm eine andere Form des Leseerlebnisses.

In diesem Sammelband nehmen kulturelle Unterschiede und die Integration von Migrantinnen und Migranten viel Raum ein. Die in Österreich ansässige Autorin Fang Lina versteht sich darauf, kulturelle Konflikte bildlich zum Ausdruck zu bringen. In ihrem Werk „Pollen“ ruft der reale Blütenpollen bei den nach Europa eingewanderten Chinesen Allergien hervor, wie ein Giftstachel, der gezielt auswärtige Menschen angreift – das ist realistisch, es ist aber auch eine Allegorie für eine ins westliche Ausland verheiratete Frau, die sich weder im Alltag und noch weniger auf seelischer Ebene anpassen kann und der schließlich nur die Flucht zurück nach China bleibt. Man kann hier durchaus von „Heimwehkrankheit“ oder „Heimkehrerkrankheit“ sprechen. Bei einem langfristig räumlich getrennten Leben wiederum droht die Gefahr, dass sich Dritte einmischen, dass eine Ehe in die Brüche geht. Der Heuschnupfen vermittelt eine Idee: dass in dieser Welt „letzten Endes jede Konfrontation eine kulturelle Konfrontation“ sei.

In ihrem „Die Ente ist an allem schuld!“ erzählt Huang Yuxin aus Berlin die Geschichte eines Konfliktes, der durch abweichende Ess- und Lebensgewohnheiten ausgelöst wird. Ein deutscher Mann verliebt sich in Folge seiner Faszination für Pekingente in eine chinesische Studierende, sie heiraten, doch entzündet die Zubereitung einer Pekingente wie beiläufig einen Konflikt, in dem sich beide lieben und verletzen. Leben Menschen, die mit einem unterschiedlichen kulturellen Hintergrund aufgewachsen sind, im wirklichen Sinne zusammen, überlässt die blumige Romantik schnell dem trivialen Alltag mit all seinen kleinen Nichtigkeiten das Feld. Entfremdung und Distanz hinsichtlich von Lebensgewohnheiten und Kulturverständnissen gestalten die Aufrechterhaltung einer internationalen Ehe noch schwieriger.
Die „Pekingente“ Huang Yuxins und der „Pollen“ bei Fang Lina erzielen auf unterschiedliche Weise das gleiche Resultat, sie sind Synonyme für das Heimweh. Mit ihrer Begeisterung für gutes Essen verfügen Chinesen in Bezug auf „essen“ über eine weitreichende kulturelle Vorstellungskraft, die Wurzeln der kulinarischen Erinnerungen ihres Volkes reichen tief. Wie kann da die Kluft überwunden, ein beiden Seiten gemeinsamer Kompromiss gefunden, die eigene kulturelle Identität auf ein Neues bestätigt werden? Das Werk bietet eine Möglichkeit an – die Liebe, ein Allheilmittel zur Überwindung kultureller Klüfte und zur Lösung von Konflikten.

Der Text „Cindy – Mit 40 frei von Zweifeln“ von Xuxu aus Deutschland betritt das Arbeitsleben und entfaltet aus einem anderen Blickwinkel Reflexionen zur kulturellen Kommunikation und Diskriminierung zwischen verschiedenen Ethnien und Geschlechtern. Ihre Reflexionen decken unter anderem die Konkurrenz zwischen Männern und Frauen, die Beziehungen in einer deutsch-chinesischen Familie, die Integration farbiger Menschen sowie die Lebensumstände von Flüchtlingen ab. Wo liegt der soziale Wert einer Frau verortet? Wo befindet sich der letzte Zufluchtsort wirklich? Kann beruflicher Erfolg unser Selbstwertgefühl unter Beweis stellen und so uns selbst und unsere Ehe schützen? Sind Männer und Frauen gleichberechtigt? Während Xuxu den gesellschaftlichen Wert einer Frau diskutiert, streckt sie ihre Fühler auch tief in Richtung der Flüchtlingskrise als Europas größter Kontroverse aus. Die Flüchtlinge unter ihrer Feder sind positiv, optimistisch, zeigen Eigenschaften der europäischen Mainstreamideologie des „politisch Korrekten“. Doch behandelt sie Flüchtlinge deswegen nicht in einfacher, stereotyper Weise, sondern versucht, durch lebendige Personen ein Prinzip aufzuzeigen: Schwieriger als die Anpassung an Sprache und Lebensgewohnheiten ist die wirkliche Integration von Wertvorstellungen. Schicksale, Psychologien und Kulturen migrieren, der Wechsel des Aufenthaltsortes verursacht aber notwendigerweise auch Veränderungen in der Lebensgestaltung.
Im Vergleich zum Schwermut Xuxus ist die Flüchtlingsgeschichte aus der Feder des männlichen Autors Zhu Hanchao aus Frankfurt im Stil einer leichten Komödie gehalten. In seinem „Frau Maaß und die Sache mit den Flüchtlingen“ schreibt der Autor nicht direkt von Flüchtlingen, sondern spiegelt über die unangenehmen Erlebnisse von Frau Maaß die schwierige Lage von Flüchtlingen wider. Aufgrund ihrer Liebesbeziehung mit einem Flüchtling wird Frau Maaß von allen Nachbarn, jung und alt, diskriminiert. All dies wird von einem Chinesen beobachtet und ruft bei ihm Mitleid hervor. Der Autor bedient sich eines humorvollen Plauderstils, um die Engstirnigkeit der Menschen sowie die Bitterkeit der Unterschicht lebendig wiederzugeben.
Anders als die bisher erwähnten farbenprächtigen und von Gerüchen erfüllten Geschichten aus dem Leben schlägt die Autorin An Jing aus Österreich mit „Gesicht mit Fischmuster“ einen anderen Weg ein. Sie skizziert eine Begegnung zwischen der chinesischen und der westlichen Kultur, mit einem weiten und einzigartigen Blick. An einem Knotenpunkt der zwei Zivilisationen führt sie Yangshao-Keramiken aus dem Gebiet entlang des Gelben Flusses, europäische Roma sowie das Element der 2020 einsetzenden Corona-Pandemie organisch zusammen, wobei die Mystik des alten Asiens erkennbar ist, aber auch die Realitäten des gegenwärtigen Westens nicht fehlen. Sie lässt aus dem Zusammenprall der verschiedenen Elemente andersartige ästhetische Ergebnisse entstehen, bereitet eine dramatische Wendung vor und zeigt die Natur des Schicksals auf, dem kein Widerstand geleistet werden kann und das nicht zu begreifen ist.

Just während der Arbeiten am vorliegenden Sammelband brach eine Jahrhundertpandemie aus. Der in Ungarn ansässige chinesischsprachige Autor und Übersetzer Yu Zemin nähert sich mit großer humanistischer Fürsorge, einem Bewusstsein für Leiden sowie empfindsamen Worten dieser die Weltordnung und das menschliche Schicksal verändernden Pandemie an.
Sein Werk „Himmelskäfig“ wird aus der Perspektive einer an COVID-19 verstorbenen, gerade von der Hülle seines Körpers gelösten und nun in der Menschenwelt umherirrenden Seele erzählt. Es zeigt eine ganze Reihe von Phänomenen im Zuge des Ausbruchs von COVID-19 in Ungarn auf, darunter die Abschottung von Städten, Quarantänemaßnahmen, Ausgangssperren, Schließungen von Läden und Restaurants, Schulschließungen und Probleme im medizinischen Bereich. Auch wird auf das Leben der Hauptfigur zurückgeblickt, seine Beziehungen zu Verwandten, Nachbarn und zu seiner Heimat sowie das Selbst werden untersucht. Menschliche Schicksale, familiäre Beziehungen sowie der Wandel der Zeit werden mit Wahrzeichen Budapests wie dem Ostbahnhof, dem Burgpalast, dem Militärhistorischen Museum, der Fischerbastei und der Freiheitsstatue zu einem Ganzen verschmolzen. In der riesigen Ansammlung von Totenseelen zum Ende der Erzählung quetscht, schiebt, verschränkt, durchdringt und überlappt sich alles, in hochgradig erschütternder Weise – auch nach dem Tod ist der Mensch nicht frei, noch zwischen Seelen wird gezweifelt, herrscht Entfremdung, ist man auf der Hut ... selbst wenn es etwas Zärtlichkeit gibt, lässt eine Decke aus Enttäuschung und Verzweiflung keine Luft zum Atmen, vor den Augen zeigt sich jäh ein düsteres und trostloses Weltuntergangsbild, man könnte mit Recht von einer Prosaversion von „Das wüste Land“ sprechen.
Die Vorstellungskraft des Werkes ist reichhaltig, die Struktur scharfsinnig, es bedient sich des Mittels des Bewusstseinsstroms, hält den Text mithilfe des Bildes der Totenseele zusammen und erreicht eine Einheit inhaltlicher und künstlerischer Aspekte.

Die vor Wunden nur so strotzende Geschichte des Zweiten Weltkrieges zählt zu den klassischen Themen, die sich kein europäischer Autor gerne entgehen lässt. Aber Werke, die den Zweiten Weltkrieg aus der Perspektive asiatischer Einwanderer darstellen, gibt es scheinbar nicht viele. Die Bemühungen des österreichischen Autors Chen Xian erscheinen daher besonders rar und wertvoll.
„Der Koffer in München“ bedient sich des Motivs der „Schatzsuche“, um eine Legende zu konstruieren, eine Binnenhandlung. Eine von einem Chinesen ausgerollte interessante Geschichte führt die Tragödie eines österreichischen Weltkriegssoldaten aus, beide narrativen Ebenen verschränken sich ineinander. Eine ist die entspannte, fröhliche Realität, eine die zutiefst tragische Geschichte des Zweiten Weltkriegs, wie in einem Duett mischen sich beide Stimmen, schreiben sich gegenseitig, bis schlussendlich beide auf das finale Thema der „Schatzsuche“ verweisen. „Der Koffer in München“ und der „Schatz“ bringen dem Leser unerwartetes Verhängnis, aber auch Hoffnung und Glück; sie verweisen auf Geld und Besitztümer, deuten aber ebenso die Lebenserfahrungen und den geistigen Reichtum der Hauptfiguren an. Gleichzeitig mit dem Zuwachs an Wohlstand in der Realität wird auch das seelische Wachstum vollendet, gleichzeitig mit dem Eintauchen in die Brutalität der Geschichte wird auch die ursprüngliche Akkumulation von Chinesen in Europa beschrieben, ihre aufrichtige Freundschaft zur Bevölkerung vor Ort. Hier kommt der einfache Wunsch des Autors nach einer friedlichen Welt sowie nach Gleichberechtigung und harmonischem Miteinander der Völker zum Ausdruck. Der Schriftsteller verfolgt den Ansatz, ein für Leser jeder Couleur zugängliches Werk zu schaffen. Unter einer banalen Schale und in einer spannenden Geschichte werden immer wieder Gedankengänge eingewebt, die Wege der Menschenwelt schonungslos untersucht. Weitreichende Ereignisse der Gesellschaft werden in individuelle Erlebnisse integriert und so das Schicksal gewöhnlicher Personen in einer historischen Epoche dargestellt.

„Strohene Zöpfe“ von Xie Lingjie aus Belgien ist eine rein chinesische Geschichte, trägt sich aber mit tiefsitzenden universellen Gefühlen. Das Werk nutzt persönliche Erinnerungen vom Land aus der Jugend der Autorin als Blaupause, um vor dem Hintergrund der Verwahrlosung und Verödung in den chinesischen Dörfern der siebziger und achtziger Jahre die tragische Geschichte eines Hirtenjungen zu erzählen, der seinen Vater verloren hat und dessen Mutter in zweiter Ehe verheiratet ist. Die Erzählung wird aus dem Blickwinkel eines marginalisierten, geistig behinderten Kindes berichtet. Der Leser wird an Benjamin aus „Schall und Wahn“ des Nobelpreisträgers William Faulkner erinnert, auch an das gedemütigte und verachtete schwarze Kind aus Mo Yans „Der kristallene Rettich“. Das Fehlen von Liebe, das Böse der menschlichen Natur wird Szene um Szene unmissverständlich aufgezeigt. Zwei um den Hals des Jungen gewickelte Strohzöpfe tragen Liebe und Erinnerungen der Mutter in sich, zugleich sind sie Peitschen, mit denen sich der Junge schützt und die er gegen eine Gruppe gleichgültiger Komplizen und Gaffer schwingt. Letztendlich nimmt sich der Junge in extremem Schmerz, Hunger und tiefer Einsamkeit das Leben – es sind veraltete traditionelle Konzepte, die Mitleidlosigkeit seiner Großmutter und die kalte Gleichgültigkeit der Dorfbewohner, die ihn ins Unglück treiben. Das Werk reflektiert anhand des extremen Endes, dem Ende eines Lebens, die realen Probleme sowie die kulturellen Strukturen der damaligen chinesischen Gesellschaft. Es kritisiert die inhärenten Schwächen der Bevölkerung, ruft dazu auf, zu lieben und geliebt zu werden. Es ruft nach einem neuen Wesen der Bevölkerung, gibt den stummen Schrei „rettet die Kinder“ von sich und weist aufklärerisches Gedankengut auf.

Chinesische Geschichten schreibt nicht nur Xie Lingjie, da wäre noch die Hongkonger Autorin Chung-Hing aus Paris. Im Unterschied zur Melancholie von „Strohene Zöpfe“ ist „Frühlingsblumen und Herbstmond, wann gehen sie dahin?“ eine zärtliche Geschichte. Als eine junge Frau von ihrem Auslandsstudium in Amerika für die Suche nach einem Ehepartner nach China zurückkehrt, wird sie von ihren Eltern aufgefordert, ihr völlig unbekannte entfernte Onkel und Tanten zu besuchen ... die komplizierten Beziehungen zwischen den Familienmitgliedern lassen ihr ganz schwindlig werden. Wer hätte gedacht, dass ein aus ihren Augen belangloses Treffen dank klassischer chinesischer Gedichte ihren Gefühlen und Empfindungen eine jähe Wendung verleihen würde, von ungeduldiger Neugier hin zur „Entfaltung einer wundersamen Reise, zur Entdeckung eines Kontinents“, zur Realisierung eines seelischen Austausches und eines spirituellen Transfers zwischen zwei Generationen. Die Erzählung kommt an ihrem lautstarken Höhepunkt zu einem abrupten Ende, nicht alles ist gesagt worden. Die Verwendung klassischer Gedichte ist bis zur Perfektion verfeinert und bleibt dem Leser in Erinnerung. Das Werk setzt an der Perspektive einer jungen Studierenden an und spiegelt diese mit dem resignierten und dennoch zärtlichen Abend am anderen Ende des menschlichen Lebens. Haben in der alten Tradition, die ein Leben lang in klassischen Gedichten „gebadet“ wurde, letztlich alle eine ähnlich starke verinnerlichte Liebe für die Literatur?

Zhu Lin aus Wien ist mit ihrem „Junge Liebe“ lebendig und bewegend und setzt sich mit emotionalem Wachstum auseinander. Wieder sind es die typischen chinesischen Eltern, die typischen chinesischen Verwandten, die für Chinesen typischen Formen von Ehe und Liebe. Nicht nur die Eltern, sondern auch noch die entferntesten Verwandten wollen sich einmischen, ärgerlich und zugleich herzerwärmend. Die Autorin begreift Liebe aus den Beobachtungen aller Formen von Zuneigung und zwischenmenschlichen Beziehungen heraus und bringt sie erfrischend und klar zu Papier.

Die psychologische Erzählung „Lebenstropfen“ befasst sich ebenfalls mit spirituellem Wachstum. Der taiwanische Autor Chu Wen-Huei aus der Schweiz ist ein Seelenfänger. Die Handlung ist sehr einfach, doch die psychologischen Beschreibungen äußerst reichhaltig: Die männliche Hauptfigur befindet sich aufgrund einer Magenblutung im Krankenhaus, ganz unerwartet ist er vorübergehend von seiner geschäftigen Tätigkeit als Reiseführer befreit, drückt auf die Pausetaste. Es gelingt ihm, in aller Ruhe seine Seele zu untersuchen. Während der täglichen Infusionen, im täglichen und nächtlichen Umgang sowie im Abgleich mit seinem immer älter werdenden, an den Rollstuhl gefesselten Zimmergenossen, angesichts aller möglichen Gedanken und Schrecken sowie aus der Bewunderung der üppig grünen Alpenlandschaft heraus kommt er schrittweise zur Erkenntnis über Wert und Wahrheit des Lebens.

Im Vergleich zum traditionellen Stil und den positiven, konstruktiven Ideen der bisher erwähnten Werke steht „Molly in München“ der Autorin Liu Xingli aus Schweden als Sonderling da, egal ob Thema oder Technik, alles ist von der Nichtigkeit und der Konfusion der Postmoderne durchdrungen. Das Werk nimmt sich einen Abschnitt im Leben der Schwangeren Molly vor: Sie begibt sich während ihrer Schwangerschaft auf eine Dienstreise nach München und stürzt sich mit einem Mann in eine Affäre, die beiden schlafen miteinander, besuchen Bilderausstellungen und gehen letztlich ohne Aufhebens auseinander. Es handelt sich um eine destruktive Erzählung, die Geschichte ist wirr, gibt die abgeschlossene Struktur des traditionellen Romans auf, sie hat weder einen regulären Beginn noch ein resümierendes Ende. Die Figuren drehen sich zwischen Anstrengung, Ermüdung und Prokrastination im Kreis und werden unablässig von namenlosen Irrationalitäten belästigt. Die Erzählung endet abrupt genau da, wo der Leser bzw. die Leserin eine Erwartungshaltung aufgebaut hat, er erfährt nichts über Ursache und Ende dieser kurzen außerehelichen Liebe, sie erstirbt wohl einfach so. Die Verlorenheit der Figuren wird durch die zerstückelte Handlung und die Gleichgültigkeit des Endes noch verstärkt. München bedeutet für den Erzähler offenbar nichts weiter als den Glanz seines Namens und die Bedeutung seines Klanges: Das Schriftzeichen 黑 ( hēi), mit der Bedeutung „schwarz“ in der chinesischen Transkription 慕尼黑 (Mùníhēi) bildet mit weiteren schwarzfarbigen Bildern (schwarze Katzen, schwarze Bilder, schwarze Farbe, schwarze Punkte) symbolische Zeichen. „Molly in München“ wird von der Körpertemperatur „trüb und kalt“ beherrscht, die Farbe ist „schwarzgrau“. Bedrückend, verzerrt, unstet, konfus. Schwarz, aber nicht humorvoll, taucht es in den Bereich des Unterbewusstseins und selbst in die Morbidität des Gegenwartsmenschen ein.

Das Alter der Autoren und Autorinnen in diesem Sammelband deckt verschiedene Generationen ab, darunter in den 40er, 50er, 60er und 70er Jahren des 20. Jahrhunderts Geborene. Im direkten Vergleich wenden sich die Autoren und Autorinnen aus den 40er, 50er und 60er Jahren dem Realismus und der Geschichte zu, sie sind vom Geist des Idealismus erfüllt, auch die Schreibmethoden sind recht traditionell. Die beiden Post- 70er-Autorinnen (Xuxu und Liu Xingli) sind vergleichsweise avantgardistisch, ihre Narration ist stärker individualisiert, zersplittert und gefühlsbetont, die Kraftlosigkeit ist ebenfalls ausgeprägter, wobei graduelle Unterschiede bestehen. Anders als Xuxu, die sich einerseits einen Blick zurück auf das klassische Zeitalter nicht verwehren kann und sich andererseits vorsichtig nach neuen Wertvorstellungen umschaut, ist Liu Xinglis Abschied von den Traditionen endgültig und mutig.

Die von diesen Werken zur Schau gestellten unterschiedlichen Inhalte und Stile bieten den deutschen Leserinnen und Lesern ein üppiges literarisches und kulturelles Mahl. Erfahrungen und Heimaterinnerungen chinesischsprachiger Autoren in Europa sowie ihre narrativen Methoden werden unter westlichen Rezipienten immer mehr Beachtung finden. Wir hoffen, dass sie Ihnen gefallen.

An Jing
Januar 2023, Salzburg
Übersetzung: Lucas Göpfert

Verlag[Firma Bacopa Verlag]
ISBN9783991140276
Auflage1
Sprache(n) Deutsch
Ausführung Gebunden
Erschienen2023
Seitenzahl292
Cover Hardcover
Autor/in Wang Jing (Herausgeber/in) , An Jing (Autor/in) , Chu Wen-Huei (Autor/in) , Huang Yuxin (Autor/in) , Liu Xingli (Autor/in) , Zhu Hanchao (Autor/in) , Fang Lina (Autor/in) , Shen Xian (Autor/in) , Xie Lingjie (Autor/in) , Xu Xu (Autor/in) , Yu Zemin (Autor/in) , Lucas Göpfert (Übersetzer/in) , Kerstin Hanff (Übersetzer/in) , Zhu Lin (Autor/in) , Gunnar Klatt (Übersetzer/in) , Peter Kolb (Übersetzer/in) , Eva Lüdi Kong (Übersetzer/in) , Verena König (Übersetzer/in) , Barbara Kreissl (Übersetzer/in) , Klaralinda Ma-Kircher (Übersetzer/in) , Jian Ma (Übersetzer/in) , Ziyan Li (Übersetzer/in) , Weiping Liu (Übersetzer/in)