Die Jäger der Wüste

Von Xue Mo (Autor/in)., Peter Kolb (Übersetzer/in). | 624 Seiten | Erschienen: 21. 03. 2023 | ISBN: 9783991140009 | 1.Auflage

Auch im zweiten Teil seiner Wüsten-Trilogie mit dem Titel "Die Jäger der Wüste", nimmt der Autor Xue Mo die LeserInnen mit in den ländlichen Nordwesten Chinas. Das sensible Verhältnis des Menschen zum Wolf beschreibt der Autor hier auf eine sehr emphatische Art und Weise.

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Eine Welt, in der einerseits der Mensch den Herausforderungen in der alltäglichen Auseinandersetzung mit den Mächten der Natur ausgesetzt ist, und in der beide, Mensch und Wolf, ihre Existenzberechtigung haben und für das Überleben kämpfen. Ist der Himmel letztendlich für das verantwortlich, was dem Menschen widerfährt, oder hat er sein Schicksal doch selbst in der Hand? Jeder Handlung und jeder Entscheidung der Menschen in dieser für westliche Leser so fremden Welt liegt eine immer wiederkehrende Frage zu Grunde, nämlich die nach der Sinnhaftigkeit eines entbehrungsreichen Lebens inmitten dieser abgelegenen Region am Rande der Wüste.

Kapitel I

Der Wolf lief gemächlichen Schritts.
Anfangs hatte Mengzi ihn für einen Schäferhund gehalten. Er wusste, dass streunende Hunde niemanden beißen.
Die Sonne hing wie ein bleicher Ball am Himmel, eher dem Mond ähnlich. Das Sonnenlicht suchte sich seinen Weg zwischen den Haufenwolken hindurch und warf Schatten über Schatten auf die Erde. Ein stetig wechselndes Spiel von Licht und Dunkelheit.
»Großvater Sonne besucht unser Dorf!«, riefen die Kinder.
Die zahlreichen, unförmigen Schatten glichen einem Flickenteppich, der den Wolf zu einem winzigen Punkt schrumpfen ließ.
»Schaut doch!«, rief jemand. »Onkel Schwarzbart!«
Mengzi fiel auf, dass die Rute des Wolfs nicht aufgerichtet war, sondern schlaff herunterhing. Dass es sich um einen Wolf handelte, daran bestand kein Zweifel. Mengzi fürchtete sich nicht. Der Volksmund sagte, dass Wölfe
Hunde des Erdgottes waren, denen die Schnauze versiegelt war. Das Tier zeigte keinerlei Eile. Scheinbar teilnahmslos schnüffelte es einmal hier, einmal dort und ließ sich durch nichts aus der Ruhe bringen.
Wölfe waren in den Dörfern keine Seltenheit und die Leute machten deswegen kein Aufsehen. Noch nie hatte ein Wolf hier einen Menschen angegriffen und wann immer einer der grauen Jäger erschien, wurde er von
den Hunden des Dorfes in Empfang genommen.
»Na los, schnappt ihn euch!«, riefen die Kinder.
»Auf ihn!«, riefen auch die Erwachsenen.
Einige der Dorfhunde jagten los in Richtung des Wolfs, der sich aber unbeeindruckt zeigte. Er trottete weiter und machte keine Anstalten, seinen Gang zu beschleunigen. Die Hunde verharrten abwartend in respektablem
Abstand. Schließlich drehte sich der Wolf um und fletschte die Zähne.
Nach und nach kamen die Leute aus ihren Häusern, um dem Schauspiel beizuwohnen: Ein Wolf, der durch ihr Dorf streifte.
»Onkel Schwarzbart!«, rief jemand. Es war die traditionelle Bezeichnung für den Wolf.
»Onkel Schwarzbart!«, echoten die anderen Schaulustigen.
Der Wolf blickte zu den Leuten herüber und bleckte die Zähne. Unbeeindruckt vom Gebell der Dorfhunde trottete er weiter. Ab und zu schnappte er sich eine der Mäuse, die sich am Straßenrand zu weit aus ihrer Deckung gewagt hatten.
Natürlich wusste Mengzi, dass Wüstenmäuse die bevorzugte Beute der Wölfe in dieser Gegend darstellten. Kein Wolf würde sich nach etwas anderem umschauen, solange es genug Mäuse gab. Der Legende nach waren
Mäuse die Läuse am Körper des Erdgottes und Wölfe waren deren Hunde. Die Sonne schien nun hell vom leicht bewölkten Himmel. Mit einem Mal blieb der Wolf stehen, hob den Kopf und begann zu heulen. Die Dorfhunde
folgten ihm weiterhin in gebührendem Abstand.
Einige der Dorfbewohner zündeten kleine Feuer am Rande ihrer Grundstücke an, um den ungebetenen Gast zu vertreiben. Die Vorfahren hatten den Glauben überliefert, Wölfe fürchteten sich vor Feuer, doch dieses Exemplar
schien völlig unbeeindruckt und lief gemächlich seines Weges. Von den zahlreichen Feuern stieg dichter Rauch empor, der nach und nach das Sonnenlicht verdunkelte.
»Los, schnappt ihn euch!«, riefen Alt und Jung erneut und versuchten, die Hunde gegen den Wolf aufzubringen, doch ohne Erfolg. Was konnten die bellenden Hunde schon ausrichten?
Schließlich blieb der Wolf erneut stehen und drehte sich nach der kläffenden Meute um, woraufhin die Hunde schlagartig das Weite suchten.
Die Schatten der Wolken legten sich über das Dorf, hier und dort knisterten Feuer, während der Wolf sich langsam entfernte. Zwischen den Rauchschwaden verschwand er schließlich in der Weite der Wüste.
Mengzi lächelte. Die Begegnung mit dem Wolf hatte ihm gefallen.

Die Dattelbäume am Dorfrand trugen üppige, dunkelrote Früchte, die wie Bienenwaben von den Ästen hingen. Es waren die besten Datteln des Dorfes, süß und aromatisch. Eingelegt in Schnaps waren sie eine besondere
Delikatesse.
Ein Mädchen saß weinend unter einem der Feigenbäume, während die anderen schwatzend und singend die reifen Früchte vom Boden auflasen.
Beizhus Tochter lag bäuchlings auf einem dicken Ast und schlug mit einem Birkenstock die Früchte herunter. Als sie ihren Vater kommen sah, rutschte sie von dem Baum auf den Boden. Beizhu runzelte die Stirn:
»Ich kann mir vorstellen, dass das Spaß macht, aber pass auf, dass du nicht herunterfällst und dir den Hals brichst. Deine Mutter würde sich die Augen aus dem Kopf heulen. Ich denke, du schuldest mir ein paar Feigen.
Los, her damit.«
»Würde sie gar nicht!«, antwortete die Tochter und gab ihrem Vater eine Handvoll der sü.en Früchte. »Ich denke, sie wäre froh, denn dann könnte sie noch ein Kind bekommen, aber dieses Mal einen Jungen. – Schau nur, Papa! Das Kamel dreht durch!«
Das Kamel von Lao Shun, das an einen Trog gebunden war, schlug mit dem Kopf hin und her und versprühte weißen Schaum durch seine Nüstern. Das Tier war im geschlechtsreifen Alter. Mengzis Vater hatte wiederholt
davon gesprochen, das Tier kastrieren zu wollen, doch Mengzi war im vergangenen Jahr nicht dazu gekommen. Nun war es unbedingt an der Zeit, die Kastration vorzunehmen. Auch Kamele zeigten ein besonderes Verhalten, sobald sie paarungsfähig waren. Manche Tiere wurden aggressiv, schlugen und bissen um sich, sodass es klüger war, einen Bogen um sie zu machen.
Mengzi trat auf das Tier zu, das laut brüllte. Ein intensiver Geruch stieg ihm in die Nase und verursachte ihm für einen Augenblick Übelkeit. Niemand außer Mengzi und Lao Shun wagte es, sich dem ansonsten lammfrommen
Tier zu nähern. Schaum stand ihm vor dem Maul und wer sich nicht vorsah, den konnte leicht eine Ladung von dem klebrigen Seiber erwischen.
Als Kind hatte Mengzi sich vor Kamelen gefürchtet. Besonders vor deren Seiber, der laut seinem Vater pockenartige Pusteln im Gesicht hervorrufen konnte. Diese Vorstellung hatte ihn mit solcher Angst erfüllt, dass er oft nach Begegnungen mit einem Kamel zu Hause auf einen Hocker vor dem Spiegel geklettert war, um in seinem Gesicht nach Pusteln zu suchen. Diese Zeiten waren lange vorbei. Heute verband ihn mit den Wüstenbewohnern eine intensive Beziehung. Wann immer Mengzi auf einem Kamel ritt, fühlte er sich von einem erhabenen Gefühl durchdrungen, das dem der sexuellen Eroberung einer Frau nahekam.

Das Kamel ihrer Familie war unbestritten der »König« unter allen Kamelen im Dorf, nicht allein wegen seiner imposanten Größe und Kraft, sondern auch aufgrund seines erhaben wirkenden Auftretens. Das zeigte sich auch in diesem Moment. Jeder andere Kamelhengst hätte seine Hoden mit dem Schweif geschlagen und sich auf diese Weise seiner Samenflüssigkeit entledigt. In der Regel verloren diese Tiere dann innerhalb von nur wenigen Tagen ihr gesamtes Körperfett und damit auch ihre physische Stärke. Nicht so Mengzis Kamel. Es schnaubte heftig. Dicker, weißer Schaum stand ihm jetzt ums Maul. Doch es hätte sich niemals »selbst befriedigt«.
Den Titel eines »Königs« unter den Kamelen hatte das Tier allerdings einem ganz realen Vorfall zu verdanken.
Eines Abends, die Kamele grasten außerhalb des Dorfes in der Wüste, schlichen sich zwei Wölfe an die Herde heran. Sie nutzten die Dunkelheit, um sich unbemerkt anzuschleichen. Die Räuber hatten es auf das stärkste
Tier der Herde abgesehen, das etwas abseits der anderen stand. Als sie das Kamel attackierten und begannen, Stücke aus dessen Höcker zu reißen, entstand Panik unter den anderen Kamelen, die wild auseinanderstoben.
Mengzi und seine Begleiter wachten von dem Tumult auf und rannten hinter den Tieren her. Es dauerte lange, bevor sie die Herde wieder beruhigt und zurückgeführt hatten. Doch als sie das angefallene Tier erblickten,
hingen die beiden Wölfe tot von dessen Höcker herab. Auch wenn er nie herausfand, wie genau sich das Kamel gegen die Attacke hatte wehren können, so bekam es seinen Ehrentitel doch zu Recht!
Mengzi musste lächeln, wenn er an diesen Vorfall zurückdachte.
Mittlerweile hatte das Kamel sein Fell gewechselt. Nur zwei Monate zuvor – der Sommer hatte seinen Höhepunkt erreicht – war das Tier bloß mehr ein Häufchen Elend gewesen. Seine Augen tränten, es gähnte fortwährend und oft brüllte es vor Unbehagen. Lao Shun hatte eine Kräutermixtur angerührt, die er dem Kamel einflößte. Das Tier hatte da bereits sein gesamtes Fell verloren und bot in seiner Nacktheit einen mitleiderregenden Anblick. Ein Fellwechsel allerdings ist bei Kamelen nichts Ungewöhnliches und sicherlich bietet kein Tier ohne sein Fell einen ästhetischen Anblick. Es konnte also nichts für seinen Zustand. Doch nun war ihm ein neues Fell gewachsen, ockerfarben und flauschig wie Seide. Mengzi liebte es, dem Tier mit der Hand über das Fell zu streichen. Eine Decke aus Kamelhaar stand bei ihm ganz oben auf der Wunschliste. Seiner Meinung nach gab es nichts Besseres in der Wüste als Kamelhaar. Flauschig und warm, hielt
es jede Feuchtigkeit ab und war das ideale Material zum Übernachten in der Wüste. Unter einer Kamelhaardecke fühlte sich ein Mann wie in den Armen einer Frau.
Doch Lao Shuns Vater hatte die geschorene Wolle nie für die Familie verwendet. Ihm ging es beim Scheren der Tiere einzig darum, die Wolle auf dem Markt gewinnbringend zu verkaufen. Mengzi konnte es seinem Vater allerdings nicht verdenken. Lebensmittel waren rar und die Familie musste daran zuerst denken.
Das Kamel kaute mit leerem Maul. Dann riss es den Kopf zur Seite und schleuderte Mengzi einen Batzen der klebrigen Masse direkt ins Gesicht.
Er gab dem Tier einen liebevollen Klaps auf den Hals.
»Ich weiß, du brauchst eine Partnerin.« Der Gedanke amüsierte ihn, dass diese zotteligen Tiere dieselben Impulse zeigten wie ein Mensch.
Er band das Kamel los und führte es zu einem Wasserloch, wo es ausgiebig trank. Anschließend führte er es in Richtung der Wüste, denn er hatte etwas Wichtiges zu erledigen.
Myriaden von Insekten hingen an den Bäumen entlang des Weges. Mit ihren stacheligen Köpfen sahen sie aus wie winzige Drachen, deren unangenehmes Äußere latente Aggression verriet. Die Baumblätter waren geziert
von den klebrigen Aussonderungen der Insekten und bildeten ein verschachteltes, spinnenartiges Netz. Tausende kleine Vielfüßler hielten sich an diesen hauchdünnen Netzen fest, die sachte im Wind wogten. Wohin
er schaute, schlug ihm Trostlosigkeit entgegen. Über ihm befand sich ein Gewirr von Netzen, zu seinen Füßen die dunkle Erde, über die zahllose Insekten krabbelten. Schnell machten sich die Mücken und Fliegen auch
an ihn heran.
Nach ausgedehnten Spaziergängen dieser Art empfing ihn seine Mutter oft mit einem spitzen Schrei und er wusste, ohne es zu sehen, dass er von oben bis unten mit Hunderten Insekten bedeckt war, die er eins nach dem anderen von seiner Jacke schnippte, um sie auf dem Küchenboden zu einer grünen Masse zu zertreten.
Seine Mutter musste er jedes Mal aufs Neue davon überzeugen, dass die Krabbeltiere vollkommen harmlos waren. Seine Schwägerin Ying Er ähnelte ihm diesbezüglich in keinster Weise. Der bloße Anblick eines Insekts
löste bei ihr Anfälle von Hysterie aus. Mengzi hatte kein Verständnis für ihre Überreaktion. Was gab es an diesen kleinen Insekten zu fürchten? Mit dem Tod seines älteren Bruders Hantou war sein Empfinden abgestumpft.
Und das war gut so. Als Kind hatte er den Tod gefürchtet. Er verband damit die Vorstellung von einem riesigen, schwarzen Loch, das die Menschen verschluckte und nicht wieder hergab. Der Gedanke daran ließ ihn unwillkürlich erzittern. Nichts war von dieser ehemaligen Furcht geblieben. Heute erschien ihm der Tod wie ein langer Schlaf. Und auch deshalb waren Insekten für ihn vollkommen bedeutungslos.
Mengzi führte das Kamel entlang des Weges, begleitet von dem knirschenden Geräusch zermalmter Insekten. Es war unmöglich, ihnen auszuweichen, denn sie bedeckten den Weg gleichsam wie ein Teppich. Aus diesem
Grund waren hier nur sehr wenige Menschen unterwegs. Frauen sah er nahezu keine. Ihnen waren die Mengen an Insekten zuwider.
Seit sich die Insekten in der Gegend so massiv vermehrt hatten, schlossen sich die Frauen des Dorfes zu Hause ein. Mussten sie doch einmal ihre Häuser verlassen, nahmen sie einen Jungen mit, der ihnen voranging und die Insekten mit einer langen Holzstange vertrieb oder mit einem Besen einen kleinen Pfad freifegte. Dann hasteten die Frauen die Straße entlang, als könnten die Insekten sie packen und in die Waden beißen.
Der Grund für das massenweise Auftreten der Insekten war unklar. Mengzi hatte gehört, dass die abnehmende Zahl der Haus- und Feldsperlinge ein Grund dafür war. Aufgrund der langen Trockenheit waren die Sperlinge nach Xinjiang und noch weiter nach Westen gezogen.
Mengzi war es Recht. Auch Lingguan, sein jüngerer Bruder, hatte die Gegend verlassen, genau wie einige der Mädchen des Dorfes. Wie Sperlinge auf der Suche nach Wasser, hatten sie die Gegend auf der Suche nach einem besseren Leben in der Welt dort draußen verlassen. Sollten sie ruhig gehen. Mengzi glaubte nicht, dass ein Mensch seinem Schicksal entkommen konnte.
Mit einem Mal wurde er gewahr, dass ihm etwas aus der Hand geglitten war. Das Seil! Noch bevor er reagieren konnte, war das Kamel auf und davon. Eine Staubwolke hüllte ihn ein.
»Das Kamel dreht durch!«, hörte er jemand rufen.
Mengzi bekam Panik. Es war absolut unverantwortlich, ein rossiges Kamel ohne Seil durch die Nase zu führen. Die Tiere waren unberechenbar und eine Gefahr für andere Passanten. Im schlimmsten Fall konnte es
vorkommen, dass ein Kamelhengst versuchen würde, einen Menschen zu besteigen……..

VerlagXue Mo
ISBN9783991140009
Auflage1
Sprache(n) Deutsch
Ausführung Gebunden
Erschienen2023
Seitenzahl624
Illustrationenzahl624
Cover Hardcover
Autor/in Xue Mo (Autor/in) , Peter Kolb (Übersetzer/in)